Richard Stöhr

1874 - 1967

Richard Stöhr ist im Gedächtnis der Musikwelt als Theorielehrer so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Herbert von Karajan, Rudolf Serkin, Alexander Brailowsky, Samuel Barber, Vicki Baum, Marlene Dietrich oder Leonard Bernstein. Der NS-Terror hat das Leben dieses Arztes und Künstlers in zwei Hälften geteilt: Unterrichtet hat Stöhr, der selbst aus der Schule von Robert Fuchs hervorgegangen ist, seit 1904 an der Wiener Musikakademie, nach der Vertreibung allerdings auch in den USA, am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Stöhr starb 1967 in Vermont. Er war ein Jahrgangskollege von Franz Schmidt, Julius Bittner, aber auch von Arnold Schönberg. Doch nicht nur im Vergleich mit dem Werk dieses »Vaters der musikalischen Moderne«, sondern sogar im Vergleich zur Musik von Bittner oder Schmidt galt Stöhrs Schaffen den zeitgenössischen Kommentatoren als rettungslos altmodisch.

Er selbst bezeichnete sich nach dem Zeugnis seines Biographen Hans Sittner folgendermaßen:

Ich bin kein Komponist der Gegenwart, verstehe die moderne Richtung nicht und nachdem sie die beherrschende ist, versteht die Welt mich nicht.
Sittner beschreibt in seiner 1965 erschienen biographischen Studie die Musik Stöhrs als »romantisch individualistisch«, spricht von »schwärmerischer Naivität«, die durch klassizistische Formgebung »gebändigt« sei.

Irrtum der Musikkritik

Bemerkenswert an der Einschätzung von Stöhrs Musik ist die vorurteilsbeladene Grundeinstellung. Ein Rezensent, der kein gutes Haar an Stöhrs Musik gelassen hätte, schrieb eines Tages über zwei seiner Lieder, die in einem Programmheft versehentlich als Werke von Johannes Brahms angekündigt waren:
Besonders dankbar waren wir für zwei Brahms-Lieder, die man sonst in der Öffentlichkeit nicht hört und die unseres Erachtens zu dem Bedeutendsten und Wertvollsten gehören, was Brahms auf dem Gebiet der Lyrik geschaffen hat ... Und wenn die heutige Jugend verächtlich behauptet, Brahms sei ihr in seiner Lyrik zu wenig modern, so suche jemand einen anderen lebenden Komponisten, der imstande ist, zwei solche Lieder zu schreiben.


Stöhr war »imstande« nicht nur Lieder zu schreiben - die zu Zeiten immerhin von der großen Gesangslehrerin Rosa Papier-Paumgartner geschätzt und den Studenten ans Herz gelegt wurden - sondern auch eine Oper - Ilse (nach einem Libretto von Richard Batka) - überdies Oratorien, sieben Symphonien, 15 Violinsonaten, sechs Klavierquintette --- Ein Großteil dieser Musik entstand erst im amerikanischen Exil; je später, desto »tonaler«, doch hatten auch das Sptäwerk, darunter eine Vermont-Suite, inspiriert von seiner Wahlheimat, keine Chance auf Verbreitung.

Der erfolgreiche Theoretiker

Hingegen wurden Stöhrs theoretische Schriften, vor allem die Harmonielehre und die Musikalische Formenlehre von Generationen von Musikstudenten verwendet. Die Formenlehre war erfolgreich genug, schon nach zwei Jahren in zweiter Auflage gedruckt zu werden. Die Signale für die musikalische Welt fanden dafür auch eine Erklärung: Stöhr, so heißt es in einer Rezension, 1916,
verzichtet nämlich darauf nur für die zu schreiben, die selbsttätig in der Kunst schaffen wollen, er möchte in erster Linie Verständnis für das Gespielte bei den Wiedergebenden wecken. ... Indem er weniger Begabten erprobte Schemata an die Hand gibt, schafft er die oft angetroffene Hilflosigkeit aus der Welt.
Im selben Atemzug heißt es in dieser Kritik über die eben erschienene Serie von Klavieretüden, Stöhrs Opus 26, sie böten
mehr als bloße Fingerübungen ... Der Anfang von Nr. 3 (C-Dur) verspricht am allermeisten, aber leider verflacht das Stück gegen das Ende hin. jedenfalls ist die Beschäftigung mit diesen Etüden lohnen für einen Virtuosen, der einmal etwas Anderes, als das Alltägliche üben will.

Hämische Kritik

Zwei Jahre danach schaffte es die Phantasie für Orgel und Orchester sogar ins Abonnementprogramm der Wiener Philharmoniker, gespielt von Georg Valker unter Felix Weingartners Leitung (im selben Konzert war der junge George Szell der Solist in Schumanns Klavierkonzert!). Doch da wütete die Arbeiter-Zeitung:
Herr Stöhr hat in seiner emsigen Art, die keinen Teil des musikalischen Schaffens unversucht läßt, auch einige hübsche Lieder geschrieben. Doch darum diese »Phantasie«? Und just im philharmonischen Konzert? Kein wirklicher Gedanke, doch endlos gebläht, kein rechter Klang, dafür im ersten Satz ein unangenehmes Violinsolo, ganz grauslich gespielt, kein zwingender Aufbau, doch alle schulmäßigen Formen zum Schluß selbstverständlich eine Fuge. ...

Aufnahmen

Die Initiative des Labels Toccata brachte ein halbes Jahrhundert nach Stöhrs Tod erstmals wieder Musik dieses Komponisten ans Licht und veröffentlichte einer CD-Reihe mit kammermusikalischen Kompositionen.

↑DA CAPO